Tourenprogramm

Piz Kesch (3418 m)

Samstag - Sonntag, 6. - 7. August 2022

Wetterglück und Wolkenspiel

Wie ein urzeitlicher Eisstrom breitet sich die Hochnebeldecke über dem Oberengadin aus. Während auf der anderen Talseite am Horizont die vergletscherten Gipfel der Bernina-Gruppe im Morgenrot zu leuchten beginnen, verlassen wir die letzten Rasenzonen und tauchen ein in die Welt der Moränen und Schutthalden. Das zunehmende Tageslicht bringt Farbe in die karge Landschaft: Vorbei an einem Seelein, das wie ein türkisblaues Auge im der steinigen Einöde liegt, und unter dem wachsamen Auge der Keschnadel, die uns im zarten Morgenrot grüsst, führt der Pfad zur Porta d'Es-cha, die über eine mit Ketten gesicherte Rinne problemlos erreicht wird. Hier steht er vor uns in seiner massigen Breite, der Piz Kesch, unser Tagesziel. Grau wälzt sich der immer noch stattliche Vadret da Porchabella nach Norden.

Am Tag zuvor hatten sich die sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmer und die zwei Tourenleitenden gegen Mittag auf dem Bahnhof Madulain besammelt, um gemeinsam zur Chamanna d'Es-cha, unserem Etappenziel, aufzusteigen. Doch nicht alle reisten direkt aus Bern an. Einige aus der Gruppe nahmen Sandras Einladung an, noch einen oder zwei Tage auf der Alpe Festignani im obersten Puschlav zu verbringen. Sie kamen am Freitag in den Genuss einer herrlichen Wanderung zum Saoseosee, der unweit von der sich im Familienbesitz der Crameri befindenden Alp liegt und zum Bade einlud.

Petrus meint es gnädig mit uns: In der Nacht hatte es auch im Engadin geregnet, die Gipfel sind wolkenverhangen und für den Nachmittag sind neue Niederschläge angesagt. Dass der Wetterwechsel genau mit unserem Tourenprojekt zusammenfallen musste, machte die Entscheidung, ob die Tour durchgeführt werden kann, für die Verantwortlichen schwierig. Bis jetzt scheint sie sich auszuzahlen: Das Wetter hält, wir kommen trocken und nicht allzu verschwitzt in der Es-cha-Hütte an, in der es sich sehr gut verweilen lässt: Das Hüttenteam ist hervorragend organisiert und die vor kurzem sanft renovierte Hütte ist trotz Vollbelegung gemütlich und zugleich komfortabel. Nicht nur die Leckereien aus der Hüttenküche wie etwa die gemäss Eigenwerbung des Hüttenteams «beste Nusstorte auf über 2500 Metern», sondern auch ein faszinierendes Abendrot und unser Tourenziel, das sich nun in seiner Wucht zeigt, wecken die Vorfreude auf den nächsten Tag.

Viertel nach fünf. Eine Lichterschlange schlängelt sich von der Hütte zum Moränenrücken hoch, denn fast alle Hüttengäste haben an diesem Morgen dasselbe Ziel: den Piz d'Es-cha, wie unser Berg auf Romanisch heisst. Einige Stunden später geht es in zwei Viererseilschaften über den fast völlig ausgeaperten  Porchabella-Gletscher bis zum Fuss des felsigen Gipfelaufbaus. Das Gehen am langen Seil erweist sich als sinnvoll: Im obersten Teil liegt noch Schnee und verdeckt einige heimtückische Spalten, die es zu überqueren gilt. Nochmals wird umorganisiert: Meist am kurzen Seil geht es in Zweierseilschaften zuerst durch Schutt, dann durch eine Rinne und zwei weitere «richtige» Kletterstellen in leichter Kletterei (II) Richtung Gipfel. Während wir uns Tritt um Tritt dem Gipfel nähern, steigen die ersten bereits wieder ab und es kommt kurzzeitig zum Stau. Doch gut vier Stunden nach dem Aufbruch stehen wir alle auf dem Gipfel und geniessen die Aussicht: Magie und Mystik sind angesagt. Wolken, Himmelblau, Nah- und Fernsicht in alle Richtungen wechseln einander ständig ab; wir sind fasziniert, erkennen neben Palü und Bernina für Sekunden auch den Ortler im Osten und finden dieses Wechselspiel um einiges spannender als den makellosen Panoramablick. Wie dankbar wir Petrus' Gnade sind!

Halb eins. Donnergrollen vom Piz Kesch; düstere Gewitterwolken steigen vom Engadin her auf. Doch wir sitzen unbesorgt auf der Terrasse der Keschhütte und geniessen die dortigen Köstlichkeiten: Rösti mit oder ohne Spiegelei, Gerstensuppe - und Nusstorte! Auch hier auf über 2500 Metern. Ob die Werbung des Es-cha-Hüttenteams ihr Versprechen hält? Selber rausfinden! Viel Zeit fürs Verweilen bleibt nicht: Der Wunsch, trocken in Chants anzukommen, treibt uns zur Eile. Nochmals hat Petrus Erbarmen mit uns: Die Sonne setzt sich gegen die Wolken durch. Nach eineinhalbstündigem Abstieg durch eine abwechslungsreiche Landschaft mit kleinen Quellsümpfen, einem Lärchen-Arvenwald und offenen Weiden erreichen wir trocken und zufrieden den Weiler Chants, wo unter der schattigen Laube des Berggasthauses als Erstes der Durst gelöscht wird, bevor es mit dem Rufbus weiter nach Bergün, dem Endpunkt unserer gemeinsamen Tour, geht.

Nicht alle führt die Reise zurück nach Bern: Sandra reist in Begleitung des Schreibenden zurück auf die Alp, wo in ihrer Abwesenheit Ehemann Martin zum Rechten geschaut hat. Ein Gips und Krücken schränken ihn aktuell in seiner Bewegungsfreiheit ein. Zum Abschluss der Tage in Südbünden erwartet alle drei ein sonniger Ausflug nach Tirano mit einem an die Fortbewegungsmöglichkeiten der Teilnehmenden angepassten Programm: Wanderung nach Viano und Baden im Lago Poschiavo für die einen und Pizzaessen und Italianità in Tirano für alle.

Hansruedi Spörri